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Weitere Notlösungen im Zuge der Pandemie werden zu Todesfällen und Umweltkatastrophen führen, heißt es in einem neuen Schifffahrtsbericht

NACHRICHTEN Presseerklärung

Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) warnt eindringlich davor, die vorübergehenden Einschränkungen im Sektor während der Covid-19-Pandemie fortzusetzen oder sogar auf Dauer zu etablieren. Sei dies der Fall, werde die Zahl der Schiffsunfälle und Umweltschäden zunehmen.

Diese Prognosen sind in einem neuen Bericht mit dem Titel Beyond the Limit: How Covid-19 corner-cutting places too much risk in the international shipping system ("Jenseits des Limits: Wie Notlösungen infolge der Covid-19-Pandemie ein zu hohes Risiko im internationalen Schifffahrtssystem darstellen") enthalten, den der Schifffahrtssicherheitsausschuss der ITF heute veröffentlicht hat.

Wie sein Verfasser, der Vorsitzende des Schifffahrtssicherheitsausschusses Odd Rune Malterud, erklärte, erkenne man unter den Hauptakteuren im Sektor, die Flaggenstaaten mit eingerechnet, eine nicht mehr hinnehmbare Tendenz, die Schifffahrtssicherheit immer weiter hintanzustellen – nicht weil es notwendig, sondern weil es zweckdienlich sei.

"Manche Akteure im Sektor drängen auf eine Einschränkung oder gleich eine Aussetzung wichtiger internationaler Vorschriften. Diese Vorschriften aber waren eingeführt worden, um die Sicherheit von Seeleuten und der marinen Umwelt über viele Jahrzehnte hinweg zu gewährleisten. Denn man hatte aus der Vergangenheit gelernt, ob es sich um Unfälle, Lecks, ein Aufgrundlaufen, Ertrunkene oder andere Todesopfer gehandelt hatte."

"Man nehme nur die Ferninspektionen. Wir lehnen dieses Verfahren bei technischen Inspektionen nicht grundsätzlich ab, wenn es sicherer ist, etwa der Einsatz von Drohnen bei riskanten Inspektionen des Schiffsaufbaus und der Tanks anstelle von Arbeitskräften. Es ist jedoch völlig inakzeptabel, wenn Länder wie Norwegen Ferninspektionen dort zulassen, wo die Besatzung neben ihren Wachdiensten selbst unabhängig und objektiv über ihre eigene Sicherheit Bericht erstatten soll."

"Angesichts des zunehmenden Ungleichgewichts der Kräfte aufgrund der 'auf See gestrandeten' Besatzungen stehen die Seeleute unter enormem Druck. Sie dürfen ihre Arbeitgeber nicht verärgern, die es oft in der Hand haben, ob sie nach Monaten auf See wieder an Land dürfen. Und mehr noch: Die meisten Arbeitgeber erwarten von der Besatzung, dass sie auch noch die Ferninspektionsaufgaben übernehmen, obwohl sie bereits jetzt überlastet sind – zum Beispiel, wenn ein wachhabender Seemann für die Sicherheit aller garantieren soll."

Malterud zufolge geht es in dem Bericht darum, für den Sektor eine Grenzlinie zu ziehen, ab der eine weitere Einschränkung der Sicherheit und der Rechte von Seeleuten nicht mehr hinnehmbar ist.

"Genug ist genug. Als Vertretung der Seeleute haben wir die Pflicht, die Alarmglocken zu läuten. Denn was wir hier gerade erleben, bereitet uns große Sorgen. Wir können nicht guten Gewissens die Hände in den Schoß legen und zulassen, dass die Sicherheit der Seeleute beeinträchtigt wird. Die Schifffahrtindustrie ist inzwischen eine tickende Zeitbombe und steuert auf eine Umweltkatastrophe zu."

"Pandemie hin oder her: Die Öffentlichkeit wird nicht noch mehr Todesfälle auf See und havarierte Schiffe, deren auslaufendes Öl wertvolle Küstenhabitate zerstört, akzeptieren. Denn das wird der Fall sein, wenn man solche Risiken im Sektor eingeht."

"Die Regierungen wissen, was passieren kann. Deshalb verweigern sie, wie wir gesehen haben, unsicheren Schiffen die Einfahrt in ihre Häfen und setzen sie fest. Und das, obwohl eben jene Regierungen selbst gefährliche Sparmaßnahmen für ihre eigenen Schiffe in anderen Gewässern zulassen. Wenn ein Schiff aber für australische und norwegische Häfen zu gefährlich ist, ist es auch anderswo zu gefährlich," so Malterud.

Fabrizio Barcellona, der ITF-Koordinator für die Seeleutesektion und die Sektion Binnenschifffahrt, verwies darauf, dass die Erhebung Crew Change Survey for September zeige, dass den Seeleuten das steigende Risiko im Sektor bewusst sei.

73,3 Prozent der Seeleute, die an dieser ITF-Umfrage teilnahmen, erklärten, dass sie sich Sorgen machen würden, weil sie "müde und erschöpft" seien. 60,1 Prozent gaben an, sie hielten es für nicht unwahrscheinlich, dass sie oder ihre Kolleg*innen "in einen durch Müdigkeit oder Erschöpfung verursachten Unfall verwickelt werden, bei dem Menschen, Material oder die marine Umwelt zu Schaden kommen könnten".

"Hier geht es nicht mehr allein um den Besatzungswechsel, wenngleich er Teil des Problems ist," so Barcellona. "Die staatlichen Transit- und Reisebeschränkungen an den Grenzen erschweren ein Anheuern von Seeleuten. Manche Akteure im Sektor reagieren darauf, indem sie übermüdeten und erschöpften Seeleuten, die an Bord bleiben, immer noch mehr Arbeit aufladen."

"Durch eine sichere Mannschaftsstärke sollte das verhindert werden können. Aber die Flaggenstaaten weltweit haben sich von ihren Pflichten als Regulierungsinstanz für die Bemannungsstärke verabschiedet. Es gibt inzwischen schon Reeder, die für ihre Schiffe eine Bemannungsstärke vorschlagen, die vor der Pandemie noch weit unter den als sicher geltenden Zahlen gelegen hätte. Doch die Flaggenstaaten segnen sie mit Ausnahmeregelungen ab."

"Durch unzureichende Besatzungsstärken wird die gleiche Arbeitsbelastung auf eine geringere Anzahl von Seeleuten verteilt. Das Ergebnis sind überlastete, gestresste Seeleute, die weder körperlich noch geistig ausgeruht genug sind, um ihre Aufgaben sicher zu erfüllen. Sie sind besorgt und fürchten Tag und Nacht Unfälle. Aber Seeleute können nicht für Unfälle verantwortlich gemacht werden, die eine Folge der misslichen Lage sind, in die sie unfreiwillig gebracht wurden."

Die ITF und die ihr angeschlossenen Gewerkschaften, so erklärte Barcellona, fordern die Flaggen- und Hafenstaaten auf, die geltenden Vorschriften, von denen die meisten über die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) eingeführt wurden, wieder anzuwenden.

"Wir sehen ein, dass es zu Beginn der Pandemie nötig war, flexibel zu sein. Aber inzwischen sind sechs Monate vergangen und die Ausnahmen, eine Verlängerung der Maßnahmen und die allzu zweckdienlichen Auslegungen der lebensrettenden Regeln lassen sich ohne Gefährdung der Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten. Wenn nichts geschieht, werden Menschen sterben und die Ökosysteme der Meere irreparabel geschädigt," so Barcellona.
 

Hinweise:

  1. Der vollständige Bericht lässt sich hier lesen und herunterladen.
  2. Der Schifffahrtssicherheitsausschuss ist ein technisches Gremium der ITF. Vorsitzender Odd Rune Malterud ist zugleich Stellvertretender Direktor und Technischer Leiter der norwegischen Gewerkschaft Det norske maskinistforbund (DNMF).
  3. Zu Hintergründen der "Crewwechsel-Krise" und der ITF-Kampagne gegen staatliche Reise- und Transitbeschränkungen im internationalen Verkehr siehe unsere Erklärung vom Juli.
  4. Die Internationale Seeschifffahrtsorganisation (IMO) hat für den 21. September eine außerordentliche Sitzung anberaumt. IMO, IAO und UN Global Compact erörtern die Crewwechsel-Krise am 24. September anlässlich des Weltschifffahrtstags mit der ITF und Vertreter*innen der Internationalen Schifffahrtskammer (ICS).

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