Verkehrsbeschäftigte gemeinsam für eine geschlechtergerechte neue Normalität
Die Verkehrswirtschaft ist in hohem Maße geschlechtsspezifisch geprägt. Von den Auswirkungen der Covid-19-Pandemie sind zwar alle Verkehrsbeschäftigten hart getroffen, dennoch ist bekannt, dass weibliche Verkehrsbeschäftigte mit besonderen und zusätzlichen Konsequenzen zu kämpfen haben.
Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) haben die sich aus dieser Krise ergebenden Herausforderungen das Potenzial, bestehende Ungleichheiten zu verschärfen. Um dies zu verhindern, ist es zwingend geboten, dass die Verkehrswirtschaft – Arbeitgeber, Regierungen, Investoren und Gewerkschaften – einen genderorientierten Ansatz umsetzen, damit sich Ungleichheiten nicht vervielfältigen, verfestigen oder verstärken.
Die ITF hat zentrale Forderungen an Arbeitgeber, Regierungen und Investoren herausgearbeitet, die die Situation weiblicher Verkehrsbeschäftigter im Rahmen der Reaktion auf Covid-19 und in der Zeit der Erholung von der Krise betreffen:
- Frauenpräsenz in allen Entscheidungsgremien
- Einkommens- und Sozialschutz
- Zugang zu Sanitärversorgung und Verfügbarkeit geeigneter persönlicher Schutzausrüstung
- Arbeitsplatzsicherheit
- Fürsorge vor Profit
- Beseitigung von Gewalt und Belästigung gegen Frauen
- Neue Technologien zum Nutzen weiblicher Beschäftigter
- Geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen
- Gendergerechte Konjunkturprogramme
Über diese Schwerpunktbereiche muss mit Gewerkschaften unter Beteiligung von Frauen verhandelt werden. Dabei müssen alle Akteure die ihnen zur Verfügung stehenden Druckmittel nutzen, um innerhalb der gesamten Lieferketten gleichermaßen hohe Schutznormen sicherzustellen.
Die Forderung nach einem genderorientierten Ansatz wird im Kampf für menschenwürdige Arbeit allen Vorteile bringen.
Frauen stellen einen wesentlichen Anteil an der Gesamtheit aller Verkehrsbeschäftigten, die als Lebensnerv der Weltwirtschaft für die Vernetzung von Lieferketten sorgen und die Welt in Bewegung halten.
Sie sind die Fahrerinnen, Schaffnerinnen, Fahrkartenverkäuferinnen, Flugbegleiterinnen, Pilotinnen, Hafenbeschäftigten und Seeleute, die im Rahmen der Reaktion der Weltgemeinschaft auf die Pandemie wichtige Dienstleistungen erbringen. Sie sind aber auch die weniger sichtbaren Arbeitskräfte, die durch ihre unverzichtbare Arbeit, z. B. im Wartungs-, Sicherheits-, Reinigungs- und Verwaltungsbereich, den Betrieb von Verkehrssystemen aufrechterhalten.
Infolge der im Verkehrssektor herrschenden Geschlechtersegregation sind es vor allem Frauen, die an vorderster Front dieser Pandemie Aufgaben im direktem Kundenkontakt oder im Reinigungsbereich wahrnehmen, wo sie einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Aufgrund dieser erhöhten Exposition verbunden mit fehlender und ungeeigneter persönlicher Schutzausrüstung und der Tatsache, dass Frauen den Großteil der prekär Beschäftigten stellen, leiden weibliche Verkehrsbeschäftigte unverhältnismäßig stark unter den Auswirkungen der Coronavirus-Krise.
Schon jetzt ist eine erhebliche Zahl weiblicher Verkehrsbeschäftigter stark betroffen, insbesondere diejenigen, die im öffentlichen Verkehrssektor, in der Kreuzschifffahrt, im Luftverkehr und im informellen Sektor tätig sind.
Die IAO-Empfehlung 205 verlangt eine Genderperspektive bei allen Maßnahmen der Krisenreaktion, einen Frauen und Männer einbeziehenden sozialen Dialog, die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Eigenständigkeit von Frauen und Mädchen, um eine Erholung zu ermöglichen.
Als Gewerkschaften tragen wir die Verantwortung dafür, dass der Schutz von Frauen während der Krise gewährleistet wird und ihre Rechte gestärkt werden.
Nach Covid-19 können wir nicht zu einer "Normalität" zurückkehren, die für viele weibliche Verkehrsbeschäftigte bedeutet, in prekären, sozial ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen überrepräsentiert, auf Führungs- und Entscheidungsebenen unterrepräsentiert und zu Hause und am Arbeitsplatz mit Gewalt und unwürdigen sanitären Bedingungen konfrontiert zu sein. Das ist nicht normal.
Bei der Überwindung dieser Krise haben wir stattdessen die Chance, für eine "geschlechtergerechte neue Normalität" zu sorgen, die allen Beschäftigten gute Arbeitsplätze garantiert.
SCHWERPUNKTBEREICHE, IN DENEN DIE RECHTE WEIBLICHER VERKEHRSBESCHÄFTIGTER GESCHÜTZT UND VERBESSERT WERDEN MÜSSEN
Frauenpräsenz in allen Entscheidungsgremien
Ohne die Mitwirkung von Frauen in Entscheidungsgremien werden Analysen, Strategien und Politiken die Anliegen von Frauen nicht in angemessener Weise aufgreifen.
Die ITF fordert Arbeitgeber und Regierungen auf:
- die Beteiligung von Frauen in allen Entscheidungsgremien sicherzustellen;
- Geschlechterparität und Diversität bei allen Entscheidungsprozessen zu gewährleisten, die sich auf die Überwachung und Erhebung von Informationen und deren Nutzung für Politikberatungsprozesse beziehen, wie in den Empfehlungen von UN Frauen, IAO und Unicef dargelegt.
Einkommens- und Sozialschutz
Einkommenshilfen für alle weiblichen Beschäftigten, einschließlich Migrantinnen, prekär Beschäftigte, Arbeitskräfte im informellen Sektor und in atypischen Beschäftigungsverhältnissen (z. B. Teilzeit, ausgelagerte Arbeitsplätze, "Gig"-Arbeit) sind elementar.
Arbeitgeber und Regierungen müssen die folgenden Leistungen sicherstellen:
- Entgeltfortzahlung für alle Beschäftigten, die infolge von Covid-19 ihre Arbeitsplätze verlieren oder vorübergehende Nachteile erleiden;
- bezahlte Freistellung von der Arbeit für alle Beschäftigten, die durch Infektion, Isolierung oder Familien- und Kinderbetreuungspflichten direkt oder indirekt von Covid-19 betroffen sind, einschließlich derjenigen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen;
- geeignete Infektionsschutzmaßnahmen, unter anderem durch die Änderung von Dienstplänen ohne Verdienstausfall für besonders gefährdete Beschäftigte (und ihre Familienmitglieder), einschließlich Schwangeren und Müttern von Neugeborenen;
- ausgedehnte Arbeitslosenleistungen, Hilfspakete, Krankenversicherung und sonstige Sozialschutzleistungen, auch für Beschäftigte im informellen Sektor und in atypischen Beschäftigungsverhältnissen;
- dringende Einrichtung eines umfassenden Sozialschutzfonds im Zuge internationaler Zusammenarbeit zur teilweisen Unterstützung der Sozialschutzsysteme von Ländern mit geringem bis mittlerem Einkommen und zur Gewährleistung einer sozialen Grundsicherung für die 28 ärmsten Länder.
Zugang zu Sanitärversorgung und Verfügbarkeit geeigneter persönlicher Schutzausrüstung
Die Verfügbarkeit von Sanitäranlagen, sauberen Toiletten, Desinfektionsmitteln und sauberem Trinkwasser war schon vorher für Verkehrsbeschäftigte ein wichtiges Anliegen und ist im Rahmen der Reaktion auf Covid-19 unerlässlich.
Arbeitgeber und Regierungen müssen Folgendes gewährleisten:
- sicherer Zugang zu menschenwürdigen Sanitäranlagen und ausreichende Pausen, ohne Angst vor eine Strafe, insbesondere angesichts der Schließung zahlreicher öffentlicher Einrichtungen, die häufig von Verkehrsbeschäftigten genutzt werden;
- strenge und regelmäßige Reinigungs- und Desinfektionsverfahren in Betrieben, die einem inklusiven Ansatz folgen und besondere Bedürfnisse von männlichen und weiblichen Verkehrsbeschäftigten berücksichtigen, wie Menstruation, Schwangerschaft, Körperbehinderung, Menopause und Vorerkrankungen.
Frauen müssen in die Entwicklung und Umsetzung präventiver Arbeitsschutzmaßnahmen einbezogen werden, unter anderem im Hinblick auf:
- persönliche Schutzausrüstung und Uniformen, die für weibliche Körper geeignet sind;
- Bereitstellung persönlicher Schutzausrüstung, einschließlich Masken, Handschuhe, Handdesinfektionsmittel und/oder Wasser und Seife für alle Beschäftigten, deren Tätigkeiten dies erforderlich machen;
- Beschäftigungsbedingungen mit genderinklusivem und -gerechtem Ansatz, die die Übertragungsgefahr minimieren und Social Distancing ermöglichen.
Arbeitsplatzsicherheit
Die Überrepräsentanz von Frauen im Bereich prekärer, informeller und atypischer Beschäftigungsverhältnisse bedeutet, dass Frauen in besonderem Maße durch Entlassungen und Lohnausfälle gefährdet sind, ohne irgendeine Form von Einkommensschutz zu haben. Verkehrsbeschäftigten im informellen Sektor bleibt keine andere Wahl, als trotz der Risiken für ihre Gesundheit und Konsequenzen seitens der Behörden weiterzuarbeiten, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu verdienen. In vielen Ländern sind Wanderarbeitnehmerinnen im Verkehrssektor aufgrund der Lockdown-Situation arbeitslos.
Ohne gewerkschaftlich ausgehandelte wirksame Schutzregelungen und sichere Beschäftigungsbedingungen besteht die Gefahr, dass Frauen aus der Branche gedrängt werden.
Die ITF fordert Arbeitgeber und Regierungen auf:
- den Übergang von informeller zu formeller Beschäftigung gemäß IAO-Übereinkommen 204 unverzüglich zu ermöglichen;
- den universellen Anspruch auf Einkommensschutz, Gesundheitsleistungen und Urlaub bei Krankheit, Schwangerschaft und Betreuungsaufgaben zu gewährleisten;
- weibliche Verkehrsbeschäftigte für neue Berufe in der formellen Wirtschaft umzuschulen.
Fürsorge vor Profit
Diese Krise hat noch viele weitere Aspekte, von denen Frauen in besonderer Weise oder überproportional betroffen sind, unter anderem im Hinblick auf Mutterschaft und damit einhergehende Risiken sowie unbezahlte Betreuungs- und Pflegearbeit.
Die ITF fordert Arbeitgeber und Regierungen auf:
- der zusätzlichen Belastung weiblicher Beschäftigter durch Betreuungsaufgaben durch ergänzende Maßnahmen zum Schutz ihrer Einkommen und Arbeitsplätze Rechnung zu tragen;
- zusätzlichen Schutz für Schwangere und Mütter von Neugeborenen zu gewährleisten;
- den Schutz der Beschäftigungsbedingungen sowie Entgeltfortzahlung, auch bei Mutterschaftsurlaub, sicherzustellen;
- bezahlten Krankheits- und Pflegeurlaub zu garantieren;
- für die Verfügbarkeit von Sanitäranlagen und Empfängnisverhütungsmitteln für Frauen zu sorgen, die infolge des Lockdowns unter Ausgangssperre gestellt sind.
Beseitigung von Gewalt und Belästigung gegen Frauen
Laut Informationen der Vereinten Nationen ist Gewalt gegen Frauen in Ländern, in denen ein entsprechendes Meldesystem existiert, um über 25 Prozent gestiegen.
Die Gewalt gegen Frauen wird im Zuge der steigenden Arbeitslosigkeit sowie zunehmender finanzieller Probleme und Unsicherheit weiter eskalieren.Einkommensverluste werden es Frauen schwerer machen, Missbrauchssituationen zu entkommen.
Da ihr Arbeitsumfeld nun noch isolierter ist als vorher, sind Frauen einem noch höheren Gewaltrisiko ausgesetzt. Bei Tätigkeiten mit direktem Kundenkontakt besteht eine erhöhte Gefahr gewalttätiger Übergriffe von Mitgliedern der Öffentlichkeit. Mangelnde Arbeit erhöht zudem besonders für informell Beschäftigte das bestehende Risiko sexueller Nötigung. Isolierung verschärft häusliche Gewalt und deren potenzielle Folgen, wie Tötungsdelikte und Suizide. Und wirtschaftliche Probleme können zur Einschränkung von Unterstützungs- und Beratungsangeboten für die Betroffenen führen.
Die ITF fordert Arbeitgeber und Regierungen auf:
- sicheren Pendelverkehr zu gewährleisten;
- Sicherheitsmaßnahmen und Meldeverfahren für Beschäftigte und Fahrgäste umzusetzen;
- das IAO-Übereinkommen 190 zu Gewalt und Belästigung zu ratifizieren und umzusetzen;
- Beratungs- und Betreuungsangebote zu geschlechtsspezifischer Gewalt zu systemrelevanten Diensten zu erklären;
- koordinierte Reaktionsmaßnahmen von Gesundheitsbehörden, Polizei, Gerichten und sozialen Diensten sicherzustellen;
- Sensibilisierungskampagnen zu geschlechtsspezifischer Gewalt, einschließlich der Aufklärung über Mythen, Stigmatisierung und Dunkelziffern, zu finanzieren;
- Informationen über Unterstützungs- und Beratungsangebote zur Verfügung zu stellen;
- die finanzielle Unterstützung von Frauenhäusern, Notrufeinrichtungen und Beratungsdiensten aufgrund des gestiegenen Bedarfs zu erhöhen;
- mehr Alternativunterkünfte zur Verfügung zu stellen, um ein Eingesperrtsein mit Tätern zu verhindern;
- zugängliche Systeme zur Meldung von Vorfällen an Behörden und zum Schutz der Betroffenen einzurichten.
Neue Technologien zum Nutzen weiblicher Beschäftigter
Arbeitgeber und Regierungen müssen Folgendes gewährleisten:
- Alle Maßnahmen, die in Reaktion auf die Krise ergriffen werden, einschließlich der Einführung neuer Technologien, Automatisierung und Digitalisierung, müssen weiblichen Beschäftigten Vorteile, keine Nachteile bringen;
- Gewerkschaften müssen als zentrale Interessengruppe in Konsultationen über jegliche neuen Technologieentwicklungen im Verkehrssektor, die auch geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen umfassen müssen, eingebunden werden.
Geschlechtsspezifische Folgenabschätzungen
Erkenntnisse über die unterschiedlichen Auswirkungen von Covid-19 auf Frauen und Männer sind grundlegend für die Gestaltung wirksamer Gleichstellungspolitiken und -maßnahmen. Sie werden nicht nur für Frauen, sondern für alle zu positiveren Ergebnisse führen.
Es ist wichtig, dass die gendergerechte Untersuchung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen von Covid-19 sich überschneidende Aspekten, wie Vertrags- und Migrant*innenstatus, Rasse und Behinderung, berücksichtigt. Die Erfassung von nach Gender-Aspekten aufgeschlüsselten Daten, unter anderem über die Entwicklung der Infektionsraten, wirtschaftliche Auswirkungen, Pflegelast und die Häufigkeit von sexueller Gewalt und Missbrauch, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Gestaltung evidenzbasierter Politiken, Strategien und Maßnahmen, die den Bedürfnissen weiblicher Verkehrsbeschäftigter Rechnung tragen.
Gendergerechte Konjunkturprogramme
Konjunkturprogramme müssen die folgenden Maßnahmen umfassen:
- Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Folgenabschätzungen und geschlechtsspezifischer Kriterien, die im Rahmen des sozialen Dialogs ausgearbeitet werden, in Projekten und Darlehensprogrammen zur Reaktion auf die Krise oder bei der Umwidmung von Fördermitteln;
- Erhöhung, nicht Einschränkung, staatlicher Ausgaben für Gesundheit, Bildung und emissionsarme Infrastruktur durch Schuldenerlass;
- Sozialschutzregelungen zur Schaffung und Ermöglichung hochwertiger Arbeitsplätze, des gleichberechtigten Zugangs und der Geschlechtergleichstellung.
Weitere Informationen sind auf Anfrage unter women@itf.org.uk erhältlich.
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