- In einer wegweisenden Entscheidung stellt die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) fest, dass die Regierungen während der Covid-19-Pandemie die Rechte der Seeleute verletzt und mehrere Bestimmungen des Seearbeitsübereinkommens nicht eingehalten haben, darunter Artikel I(2) über die Pflicht zur Zusammenarbeit.
- Die UN-Behörde ruft die Staaten dazu auf, Seeleute unverzüglich als systemrelevante Beschäftigte anzuerkennen.
- Ein hochrangiger Ausschuss von Rechtsexpert*innen bekräftigt, dass "der Schutz des Seearbeitsübereinkommens gerade in Krisenzeiten seine vollständige Bedeutung entfaltet".
In einer bahnbrechenden Entscheidung hat der Sachverständigenausschuss der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) eine deutliche Botschaft an die Regierungen gerichtet, wonach sie während der Covid-19-Pandemie ihrer völkerrechtlichen Sorgfaltspflicht gegenüber Seeleuten nicht nachgekommen sind.
Im ersten Spruch dieser Art stellte der Ausschuss aus 20 herausragenden Jurist*innen fest, dass die Regierungen bei der Einhaltung der Mindestnormen zum Schutz der Rechte von Seeleuten, wie sie im internationalen Recht unter dem Seearbeitsübereinkommen (MLC) 2006 festgelegt sind, kläglich versagt haben. Dazu gehören Grundrechte wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung sowie der Anspruch auf Heimschaffung, Jahresurlaub und Landgang.
Der Spruch des IAO-Sachverständigenausschusses erfolgte infolge von Eingaben der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) und der Internationalen Schifffahrtskammer (ICS). Der vollständige Wortlaut des Spruchs, der den nationalen Regierungen übermittelt wird, kann hier nachgelesen werden.
Als Reaktion auf das Urteil gaben ITF-Generalsekretär Stephen Cotton und ICS-Generalsekretär Guy Platten eine gemeinsame Erklärung ab:
"Die Regierungen werden seit Monaten aufgefordert, sich mit der Crewwechsel-Krise zu befassen. Jetzt wird ihnen gesagt, dass sie handeln müssen, um den Hunderttausenden von Seeleuten zu helfen, die sich aufgrund des rechtswidrigen Vorgehens der Mitgliedsstaaten immer noch an Bord von Schiffen befinden."
"Dieser Spruch stellt klar, dass es sowohl rechtlich als auch moralisch falsch ist, wenn Länder weiterhin von Seeleuten erwarten, unbegrenzt zu arbeiten und die Welt mit Lebensmitteln, Medikamenten und lebenswichtigen Gütern zu versorgen, während sie ihnen gleichzeitig ihre Grundrechte als Seeleute, als Arbeitnehmer*innen und als Menschen vorenthalten. Diese wegweisende Entscheidung ist eine klare Bestätigung dessen, was Seeleutegewerkschaften und Reeder seit neun Monaten sagen."
Diese Entscheidung schafft Klarheit darüber, dass alle Regierungen das Völkerrecht einhalten und Seeleute durch die Umsetzung praktischer Maßnahmen dringend als systemrelevante Arbeitskräfte anerkennen müssen. Das bedeutet, Seeleute in Häfen zur medizinischen Versorgung an Land gehen zu lassen. Es bedeutet, Seeleuten zu ermöglichen, zu einem Flughafen zu gelangen, um nach dem Ende ihrer Verträge nach Hause zu fliegen. Und es bedeutet, Ablösungsbesatzungen über die Landesgrenze zu den wartenden Schiffen zu lassen, ohne sich durch ein Dickicht von Bürokratie kämpfen zu müssen. Bis heute haben nur 46 Länder Seeleute als systemrelevante Arbeitskräfte eingestuft, was einfach nicht ausreicht."
"Wir begrüßen die Intervention des IAO-Sachverständigenausschusses, der darlegt, dass die Regierungen ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. Der Ausschuss übt unmissverständliche Kritik an der mangelnden Kooperation der Regierungen. Er wirft den Staaten vor, diese Situation so lange zugelassen zu haben."
"Er legt aber auch dar, wie wir sie gemeinsam lösen können. Dies ist eine der eindeutigsten und effektivsten Expertenaussagen, die wir je gehört haben. Erneut wurde ein Fahrplan aufgestellt, wie diese humanitäre Krise zu lösen ist und man zu einem normal funktionierenden System für den Crewwechsel zurückkehren kann, auf das sich die Lieferketten der Welt stützen können. Es ist nun Aufgabe der Regierungen, die Umsetzung dieses Fahrplans voranzutreiben und Seeleute als systemrelevante Arbeitskräfte bei Covid-19-Impfungen bevorzugt zu berücksichtigen, um deutlich zu demonstrieren, dass dieser Entscheidung nun auch Taten folgen."
Die Crewwechsel-Krise
Die nationalen Reisebeschränkungen, die wegen der Covid-19-Pandemie verhängt wurden, haben 400.000 Seeleute, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren oder abgelöst werden konnten, über Gebühr betroffen. Hunderttausende von Beschäftigten sitzen derzeit auf See fest und sind gezwungen, ihre Verträge zu überziehen, oder warten darauf, ihren Dienst an Bord anzutreten.
Die aktuelle Situation gefährdet die Sicherheit und das psychische Wohlbefinden der Seeleute. Gleichzeitig droht das anhaltende Problem, dass Seeleute nicht abgelöst bzw. an Bord von Schiffen gebracht werden können, die Beförderung lebenswichtiger Güter auf dem Seeweg massiv einzuschränken, und das in einer Zeit, in der die Länder sie am meisten brauchen.
Die ICS und die ITF setzen sich seit einem Jahr dafür ein, Seeleute als systemrelevante Arbeitskräfte einzustufen und sicherzustellen, dass ihre Rechte nicht im Zuge der Covid-19-Pandemie verletzt werden.
Medienkontakte:
ITF: Rory McCourt, (+447711) 356 964 oder media@itf.org.uk
ICS: Oliver Aplin, (+447851) 552441 oder ICS@woodrowcommunications.com
Hinweis für Redaktionen:
Der vollständige Wortlaut der Erklärung des Sachverständigenausschuss der IAO ist hier nachzulesen.
Die ICS
Die Internationale Schifffahrtskammer (ICS) ist der wichtigste internationale Wirtschaftsverband für Schiffseignerorganisationen und Schiffsbetreiber im Seehandel, der alle Sektoren und Berufe sowie über 80 Prozent der Welthandelsflotte vertritt.
Die ITF
Die Internationale Transportarbeiter-Föderation vereint fast 700 Gewerkschaften aus 150 Ländern und hilft ihren Mitgliedern, Rechte, Gleichheit und Gerechtigkeit zu sichern. Die ITF ist Sprachrohr für fast 20 Millionen erwerbstätige Männer und Frauen rund um den Globus, darunter über eine Million Seeleute.
Der IAO-Sachverständigenausschuss
Der IAO-Sachverständigenausschuss wurde 1926 gegründet, um die wachsende Zahl von Regierungsberichten zu ratifizierten Konventionen zu prüfen. Heute ist er mit 20 herausragenden Jurist*innen besetzt, die vom Verwaltungsrat der IAO für drei Jahre ernannt werden. Sie kommen aus unterschiedlichen geografischen Regionen, Rechtssystemen und Kulturen. Der Sachverständigenausschuss hat die Aufgabe, die Anwendung der internationalen Arbeitsnormen in den Mitgliedsstaaten der IAO unparteiisch und fachlich zu bewerten.