Von Victor Figueroa, ITF-Beauftragter für strategische Recherchen
Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz ist für Beschäftigte überall in der Welt ein elementares Anliegen. Über Jahrzehnte hinweg haben die Beschäftigten in unterschiedlichen Ländern für die Anerkennung ihres Rechts auf ein sichereres Arbeitsumfeld gekämpft. In einigen Ländern sind Arbeitsschutzbestimmungen ein wichtiges Instrument bei der Verteidigung von Arbeitnehmerrechten.
Der 28. April ist für Beschäftigte weltweit der Tag des Gedenkens an vergangene Kämpfe, aber auch der Auseinandersetzung mit den Konflikten, die noch vor ihnen liegen. So schaffen zum Beispiel neue Technologien und darauf basierende Arbeitspraktiken neue Herausforderungen im Bereich des Arbeitsschutzes. Neue Technologien eröffnen aber auch neue Chancen für den Schutz bestehender Rechte.
High-Tech-"Zuckerbrot und Peitsche" bei Amazon
In dieser Woche nahm ich in Spanien an Gesprächen über die Auswirkungen neuer Technologien auf die Beschäftigten in dortigen Amazon-Niederlassungen teil und war schockiert über das Ausmaß an Kontrolle und die absolute Missachtung des Wohlbefindens der Beschäftigten, das in der Art und Weise zum Ausdruck kommt, wie Technologien in den Lagerhäusern eingesetzt werden. Als führendes und wachsendes Tech-Unternehmen bietet Amazon ein besorgniserregendes Beispiel für die Herausforderungen, mit denen Beschäftigte angesichts der zunehmenden Verbreitung von Technologien zur Überwachung und Leistungsbeurteilung in Zukunft konfrontiert sein werden.
Die Beschäftigten schilderten mir, wie Technologien in Verbindung mit der Unternehmenskultur und Einschüchterungstaktiken ein von hohem Druck geprägtes Arbeitsumfeld schaffen, in dem Verletzungen und Stress an der Tagesordnung sind. Leistungssteigernde "Power Hours" und "Ready, Steady, Go!"-Systeme stehen kombiniert mit positiven Ermahnungen ("Die Kinder kriegen ihre Geschenke nicht, wenn wir diese Zielvorgabe nicht einhalten!") für das Zuckerbrot, während Technologien die Peitsche sind, mit der ein Arbeitsumfeld geschaffen wird, in dem sich die Menschen stunden- und tagelang bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit abrackern. Der physische und psychische Preis ist hoch.
Die Amazon-Angestellten berichteten von der Überwachung durch Algorithmen, die die Arbeitsgeschwindigkeit vorgeben, wobei niemand weiß, welche Kriterien zugrunde gelegt wurden und wer darüber entscheidet, ob sie realistisch oder sinnvoll sind. Über einigen Arbeitsplätzen wurden früher das tatsächliche und das vorgegebene Arbeitstempo angezeigt, aber die Manager befürchteten, dass die Beschäftigten langsamer arbeiten würden, wenn sie die Zielvorgabe überschritten, und so wurden die Anzeigen letztendlich wieder entfernt. Beschäftigte arbeiten härter, wenn sie nicht wissen, ob sie ihre Zielvorgaben erfüllen. Die Zielvorgaben werden eher überschritten, wenn Manager und Vorgesetzte die Leute mit dem gefürchteten Satz "Estas flojo." (Du bist im Rückstand.) antreiben.
Überüberwacht und überarbeitet
Mit Chips ausgestattete Ausweise informieren das System darüber, wo sich die Beschäftigten aufhalten, und verfolgen ihren Standort in der gesamten Anlage. All ihre Bewegungen werden beobachtet, und die Teamleiter*innen oder Manager reagieren selbst bei den kleinsten Verstößen. So kann beispielsweise der Lohn für ein oder zwei Tage Arbeit einbehalten werden, wenn Beschäftigte eine Tür offenstehen lassen. Die Beschäftigten sprachen ferner von Überwachungskameras in den Umkleideräumen, wobei niemand weiß, wer auf die Aufnahmen zugreifen kann und wofür sie verwendet werden. Ein weiteres Beispiel für den Einsatz einer Technologie, der für die Angestellten nicht transparent ist.
Aber Technologien verfolgen nicht nur den Standort der Amazon-Mitarbeiter*innen im gesamten Betrieb, sie bestimmen auch ihr Arbeitstempo. Bildschirme an den Arbeitsplätzen zeigen, wo die Beschäftigten Versandartikel hintun sollen, und Artikel werden auf dem Weg durch die Anlage gescannt. Die Algorithmen entscheiden, was wann wohin befördert wird und wie lange du dafür brauchen darfst. Es werden immer und immer wieder dieselben Bewegungen ausgeführt. Einer der Beschäftigten sagte: "Das macht dich zum Roboter und stumpft dich total ab." An einigen Arbeitsplätzen befinden sich die Beschäftigten buchstäblich acht Stunden lang in einem Käfig und haben keinerlei sozialen Kontakt, um sie von den Robotern fern zu halten, die ihnen die Regale bringen. "Wenn du da drin zusammenbrichst, würde es niemand mitbekommen,” sagten sie. Einer der Beschäftigten verbrachte zwei Monate in solchen Käfigen. "Am Ende der Schicht wollte ich jedes Mal nur noch sterben," berichtete er.
In jeder Schicht wiederholen die Beschäftigten ein und dieselbe Bewegung Hunderte, ja manchmal Tausende von Malen, was mit der Zeit zu einer hohen Verletzungsrate führt. Am häufigsten sind Verletzungen an den Handgelenken, Händen und Knien, an einigen Arbeitsplätzen aber auch Rückenverletzungen. Das Unternehmen streitet ab, dass diese Verletzungen bei der Arbeit verursacht werden, und Beschäftigte werden bei der Meldung von Verletzungen von Vorgesetzten begleitet, Gewerkschaftsvertreter*innen dürfen hingegen nicht dabei sein. "Willst du nicht mehr arbeiten?" werden sie manchmal von Vorgesetzten gefragt. Die Beschäftigten berichten, dass sie am Ende einer Schicht total erschöpft sind, und lachen nur bitter bei der Frage, ob sie mit dem Fahrrad zur Arbeit und nachhause fahren: "Ich sag' dir eins: Nach acht Stunden solcher Maloche will niemand mehr Fahrrad fahren."
High-Tech-Arbeitsschutz und Menschlichkeit
In diesem Umfeld werden Technologien dazu eingesetzt, Menschen an die Grenzen ihrer körperlichen und emotionalen Belastbarkeit zu treiben. Mit der zunehmenden Verbreitung solcher Technologien ist es unerlässlich, die Beschäftigten überall durch Arbeitsschutzmaßnahmen zu schützen, die verhindern, dass Technologien ihnen willkürliche und unmenschliche Arbeitsgeschwindigkeiten auferlegen. Die Beschäftigten müssen über das jeweilige Arbeitstempo informiert sein, und sie sollten dazu in der Lage sein, es zu ändern. Sie brauchen angemessene Ruhezeiten, insbesondere wenn sie an Bildschirmen oder isoliert von anderen arbeiten. Alle Beschäftigten sollten Zugriff auf die von den Kontroll- und Überwachungsanlagen erstellten Daten haben, damit sie wissen, was diese Technologien tun und zu welchem Zweck.
Genauso wie Technologien dazu eingesetzt werden, Beschäftigte zu überwachen und dazu zu zwingen, härter zu arbeiten, könnten sie auch dazu verwendet werden, die Arbeitsbedingungen zu überwachen und Beschäftigte vor Ausbeutung zu schützen. Alles hängt davon ab, wer die Technologien kontrolliert und wozu sie verwendet werden.
Beschäftigte wollen keine digitalen Aufpasser. Wir wollen Technologien, die unsere Fähigkeiten erweitern und uns dazu in die Lage versetzen, besser zu arbeiten, nicht härter. Amazon, ist die Botschaft angekommen?
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